2015 Clemens Ottnad

Einführungsrede zur Einzelausstellung von Erwin Holl „ÜberSicht“,
Landratsamt Aalen, 2015

Absolut zutreffend und zugleich doch wohlweislich irreführend lautet der Titel der Ausstellung des in Stuttgart lebenden Malers und Zeichners Erwin Holl „ÜberSicht“. Denn in der Tat sind in der aktuellen Präsentation großformatige Malereien, mittlere Papierarbeiten wie auch kompakt arrangierte, vielteilige Zeichnungsblöcke zu sehen. Gemeinsam ergeben sie somit gewissermaßen eine exemplarische Zusammenschau dessen, was das Schaffen und die Interessen unseres Künstlers alles ausmacht. Dabei hätten wir allerdings beinahe übersehen, dass in der uns vorliegenden Schreibweise die zweite Silbe der „ÜberSicht“ – gegen eine allzu leicht eingängige Lesbarkeit gebürstet – im Wortinneren dudenwidrig mit einem Großbuchstaben anhebt; mit einem Leerzeichen zwischen beiden anstattdessen ausgestattet könnte das Motto genauso gut folglich auch „Über Sicht“ (oder anders ausgedrückt: Über das Sehen) heissen.


Die Widerständigkeit gegen ein leichtfertiges Übersehen prägt diese Arbeiten von Erwin Holl – man könnte sie auch Anleitungen über das Sehen – schon seit langen Jahren in besonderem Maße. Während sich der mit ihnen konfrontierte Betrachter noch mit den stilistisch einschlägigen Kategorien von Gegenständlichkeit oder Abstraktion abmüht, mit Oben oder Unten, Dahinter oder Davor, Figuration hier oder Pflanzenwelt da, autonomer Linie und Farbe gegen ebendieselben als Bedeutungsträger sichtbarer Wirklichkeit, hat sich der Künstler jener bloß sinn- und denkblockierender Scheuklappen längst entledigt, die gesehenen Alltag, Medienwelt, Kunstgeschichte einerseits und die die diversen Sinneseindrücke sampelnde Imagination andererseits vermeintlich voneinander trennen. Er (Erwin Holl) behält die Übersicht, wir aber haben sie offenbar (vielleicht nicht nur in seinen Bildern) gänzlich schon verloren. In aller Regel erscheinen nämlich die Werke von Erwin Holl auf den ersten Blick zunächst wie ungegenständliche Kompositionen. (Und wer will sich darin schon zurechtfinden?) Das eine Mal überstrahlen bei ihm starkfarbige Partien das Lineament schier zum Verschwinden, ein ander Mal versinkt dieses umgekehrt in der Tiefe eines fiebrig hellen Leuchtens. Erst bei genauerem Hinsehen, ja intensiven in die Tiefe Hineinsehen in die Bilder – wenn wir die Spur der Linie aufnehmen, die Schichtungen der Farbe sukzessive für uns selbst zu erobern verstehen – erschließen sich bekannte und allgemein verbindliche Zeichen und Chiffren, die offenkundig einer täglichen erfahrbaren Umgebungswirklichkeit entstammen. Mehr und mehr nimmt so die eigene Entdeckensfreude beim Eintauchen in die Vorstellungswelt von Erwin Holl zu; er – ihr Urheber, der auch real viel auf Reisen war und ist (Paris, Neapel, Rom und anderswo) – hatte sie (die Freude, Sinn- und Sinneslust) ja schon beim Machen.

Bei Erwin Holl freilich wächst jedoch zusammen, was an und für sich überhaupt nicht zusammengehört. In seinen Bildorganismen wuchert Natur in Technik über und umgekehrt, vegetabile Strukturen und architektorale Baukörper miteinander verschmolzen, menschliche Körperkontur zerfließend in selbstmächtiges Ornament. So entsteht in der vielschichtigen Verschränkung der Bild- und Bedeutungsebenen ein zeichendichter Dschungel, der eine ungeheure tiefenräumliche Wirkung (in den eigentlich untiefen – da zweidimensionalen – Bildgrund hinein) entfaltet und dessen Sog – so man sich denn auf das optisch-visuelle Beschreiten des zunächst noch unsicher geglaubten Terrains auch wirklich einlässt – kaum mehr zu entrinnen ist.

Denn unwegsam sind die Holl’schen Bildgelände nicht eigentlich. Sieht man nämlich einmal von den allgegenwärtigen, wirtschaftlich orientierten Versicherungssystemen ab, die uns per Policen sattsam gegen Verletzbarkeit, ja gar Vergänglichkeit zu wappnen anmaßen, sind offenkundig auch die hollischen (Bild) Schweben und ihre Schwerelosigkeit mikroskopisch feiner Strichdickichte und sphärischer Farbflächen häufig ausgesprochen tektonisch fest verfügt. Die Formate übergreifenden grafischen Gitterstrukturen, akzentuierten Farbbahnen und Zeilen, geradezu Armierungen eines möglicherweise auseinanderdriftenden Gefüges (etwa mit Kreuzankern und anderen Bauformen) sowie immer wieder Pfeile und andere Symbole erscheinen zum Zweck der Navigation über und durch den Bildgrund hindurch als immerhin richtungsweisend, wenngleich die Ziele – angestrebte und ersehnte – samt den individuellen Routen dorthin offenbleiben.

Die überflüssigen Fesseln der trivialen Gewissheiten erst einmal abgestreift mag man zunächst leichter Dinge die farbgleissenden Linienlabyrinthe betreten zu wollen. Köstlich plausibel und doch voller Gefahren empfängt hier die andere Welt: eine Zimmerpflanze spreizt ihre Tentakel, die als multiplexe Antennen an provisorischen Gerüsten befestigt sind, um geheime Signale abzuleiten; ein plasmisches Wabern, von Zelle zu Zelle, von Organ zu Organ im Körperinneren unterwegs, setzt ein, der Stricheschwarm darin im Nirvana zwischen mäandrischem Schnürlregen und einem antikisch geschwanten Leda-Mythos verortet; zischende Stromleitungen kurzerhand umfasst von fleckpunktierten Riesinnen-Armen, und andernorts ausgeliehene Scharfschützen sowie andere abgängige Aktfigure bevölkern jählings die in sich verwobene Stillleben-Portrait-Landschaft ausweglos; und dann sind sie einfach wieder nur KomPositionen des Verschiedenen und des Gleichen auch.

Hätte man da den ariadnischen Faden aufzunehmen versäumt, man fände nie wieder aus diesen sich gegenseitig verschränkenden Bildverstecken heraus. Dabei scheint gerade die planerische Bewegung – Wegenetze, Streckenlinien, Baupläne allerhand Apparaturen – besonders charakteristisch für die Malereien von Erwin Holl zu sein. Noch übermalte volumige Acrylgrate und Wulste stehen erhaben auf der Leinwand oder dem Baumwollstoff, als ob aus der Vogelschau – auch dies eine Über-Sicht – Luftaufnahmen archäologischer Funde, prähistorischer Landebahnen oder geomorphologische Sedimentanlagerungen erstellt wären. Die Übersprünge betreffen also nicht allein die Motivik, die diversen Genren, die unterschiedlichen Lebenssphären (Technik, Natur, Wissenschaft, Kunst; Anregungen und Analogien, aus Zeitschriften, Büchern, eigenen Fotografien, aus Skizzen und zeichnerischen Studien gespeist). Vielmehr betreffen sie ebenfalls die vom Künstler verwendeten Ausdrucksmedien, Materialien und Bildgattungen selbst: Zeichnung wird Malerei, wird wieder Zeichnung, gerät zum Farbrelief und ragt aus dem Bildträger heraus, als wolle der Weg – dort hinein ins Bildinnere, ins Sinninnere – haptisch erfahren, erfühlt werden, einer überdimensionalen, mysteriösen Braille-Schrift gleich, um den Betrachter ja vor dem Übersehen der Dinge (auch der kleinen) zu bewahren, sollte die Übersicht je abhanden gekommen sein.

Clemens Ottnad M.A., Kunsthistoriker
Geschäftsführer Künstlerbund Baden-Württemberg