Einführungsrede zur Einzelausstellung von Erwin Holl „Verhaltenswahrscheinlichkeitsrechnung“,
Wendelinskapelle Weil der Stadt, 2016
… Bereits im Titel zur Ausstellung hat er selbst (Holl) dem Betrachter den Code zur unfehlbaren Entschlüsselung seiner Malereien und Arbeiten auf Papier mitgeliefert: Verhaltenswahrscheinlichkeitsrechnung. Demzufolge muss man nur noch einen Begriff aus der Psychologie (Verhaltenswahrscheinlichkeit) mit einem Teilgebiet der Mathematik (Wahrscheinlichkeitsrechnung) verknüpfen, und schon sind sämtliche Rätsel gelöst, die ansonsten in langatmig wirren Vernissagenreden eher noch zusätzlich vergeheimnisst werden. Wer von uns erinnerte sich da also nicht gerne an die Axiome von Kolmogorov, der in den 1930er Jahren die besagte Wahrscheinlichkeitstheorie hinlänglich begründet hatte, und dessen dritten Axiom-Grundsatz wir ganz besonders ins Herz geschlossen haben dürften, der da lautet: Die Wahrscheinlichkeit einer Vereinigung abzählbar vieler inkompatibler Ereignisse ist gleich der Summe der Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ereignisse. Dabei heißen Ereignisse A(i) inkompatibel, wenn sie paarweise disjunkt sind, also für alle gilt, dass i ungleich j ist. Es gilt daher [an dieser Stelle folgt eine ganz und gar unglaubliche Formel]. Diese Eigenschaft wird auch „σ-Additivität“ genannt. So einfach kann Kunst erklärt werden, mindestens dann, wenn es sich um bildnerische Verhaltenswahr-scheinlichkeitsrechnungen von Erwin Holl handelt.
Dabei zeichnete die Arbeiten Erwin Holls doch immer schon eine gewisse Unberechenbarkeit aus. (Ja, man könnte Unberechenbarkeit an sich als ein Qualitätsmerkmal guter Kunst anführen.) Während sich der mit ihnen konfrontierte Betrachter nämlich noch mit den stilistisch einschlägigen Kategorien von Gegenständlichkeit oder Abstraktion abmüht, mit Oben oder Unten, Dahinter oder Davor, Figuration hier oder Pflanzenwelt da, autonomer Linie und Farbe gegen ebendieselben als Bedeutungsträger sichtbarer Wirklichkeit, hat sich der Künstler jener bloß sinn- und denkblockierender Scheuklappen längst entledigt. Wie im Holl’schen Atelier ganz selbstverständlich miniaturische Skizzen, Fotos, Zeitungsausschnitte, Einladungskarten zu Ausstellungen, Buch- und Pressetexte, allerhand Schnipsel, Form- und Farbensprengsel mit den monumentalen Leinwänden gleichzeitig zusammenhausen, so fügen sich auch in des Künstlers Imagination die unterschiedlichen Versatzstücke des Alltags, von Medienwelt und Kunstgeschichte organisch in eins.
In aller Regel erscheinen die Werke von Erwin Holl auf den ersten Blick tatsächlich zunächst wie ungegenständliche Kompositionen. Das eine Mal überstrahlen bei ihm starkfarbige Partien das Lineament schier zum Verschwinden, ein ander Mal versinkt dieses umgekehrt in der Tiefe eines fiebrig hellen Leuchtens. Erst bei genauerem Hinsehen, ja intensiven in die Tiefe Hineinsehen in die Bilder – wenn wir die Fährte der Linie aufnehmen, die Schichtungen der Farbe sukzessive für uns selbst zu erobern verstehen – erschließen sich bekannte und allgemein verbindliche Zeichen und Chiffren, die offenkundig einer täglichen erfahrbaren Umgebungswirklichkeit entstammen. Mehr und mehr verstärkt sich so die eigene Entdeckensfreude beim Eintauchen in die so andere Vorstellungswelt. Dingewelt und delikate Farbigkeit verbinden sich zu einem auratischen Licht.
Bei Erwin Holl freilich wächst jedoch zusammen, was an und für sich überhaupt nicht zusammengehört. In seinen Bildorganismen wuchert Natur in Technik über und umgekehrt, vegetabile Strukturen und architektorale Baukörper werden miteinander verschmolzen, menschliche Körperkontur – jüngst wieder einmal riesenhaft (die Ruderin und andere Heroinen des Alltagssehens) – zerfließend in selbstmächtiges Ornament. So entsteht in der vielschichtigen Verschränkung der Bild- und Bedeutungsebenen ein zeichendichter Dschungel, der eine ungeheure tiefenräumliche Wirkung (in den eigentlich ja untiefen – da zweidimensionalen – Bildgrund hinein) entfaltet und dessen Sog – so man sich denn auf das optisch-visuelle Beschreiten des zunächst noch unsicher geglaubten Terrains auch wirklich einlässt – kaum mehr zu entrinnen ist.
Doch unwegsam sind die hollischen Bildgelände nicht eigentlich. Sieht man nämlich einmal von den allgegenwärtigen, wirtschaftlich orientierten Versicherungssystemen ab, die uns per Policen sattsam gegen Verletzbarkeit, ja gar Vergänglichkeit zu wappnen anmaßen, sind offenkundig auch jene Schweben und die Schwerelosigkeit mikroskopisch feiner Linienlandschaften und sphärischer Farbflächen häufig ausgesprochen tektonisch fest verfügt. Die Formate übergreifenden grafischen Gitterstrukturen, akzentuierten Farbbahnen und Zeilen, geradezu Armierungen eines möglicherweise auseinanderdriftenden Gefüges (etwa mit Kreuzankern und anderen Bauformen versehen) sowie immer und immer wieder Pfeile und andere Symbole erscheinen zum Zweck der Navigation über den Bildgrund verteilt als vorgeblich richtungsweisend. Oder schickt uns hier einer wohlweislich – und ironisch zwinkernd – bewusst in die Irre, da es dem einen rechten (und berechenbaren) Weg geflissentlich zu misstrauen gilt?
Wie dem auch sei, die überflüssigen Fesseln der trivialen Gewissheiten erst einmal abgestreift, mag man endlich leichter Dinge die farbgleissenden Bedeutungslabyrinthe betreten. Köstlich plausibel und doch voller Gefahren empfängt hier eine andere Welt: ein plasmisches Wabern, von Zelle zu Zelle, von Organ zu Organ im Körperinneren unterwegs, setzt ein, der Stricheschwarm darin im Nirvana zwischen mäandrischem Schnürlregen und Raumschiff Enterprise verortet; zischende Stromleitungen kurzerhand umfasst von konturgefleckten Riesinnen, und andernorts ausgeliehene Scharfschützen sowie aus anderen Instituten abgängige Aktfigure bevölkern jählings die in sich verwobene Stillleben-Portrait-Landschaft-Genredarstellung-USW. ausweglos … und dann sind sie einfach wieder nur KomPositionen – Zusammen-Stellungen des Verschiedenen und des Gleichen – auch.
Hätte man da den berüchtigten ariadnischen Faden aufzunehmen versäumt (Wo ist er denn bloß geblieben?), man fände nie wieder aus diesen sich gegenseitig verschränkenden Bildverstecken heraus. Dabei scheint gerade die planerische Bewegung – Wegenetze, Streckenlinien, Baupläne allerhand Apparaturen – besonders charakteristisch für die Malereien von Erwin Holl zu sein. Noch übermalte volumige Acrylgrate und Wulste stehen erhaben auf der Leinwand oder dem Baumwollstoff, als ob aus der Vogelschau Luftaufnahmen archäologischer Funde, prähistorischer Landebahnen oder geomorphologische Sedimentanlagerungen erstellt wären. Die Übersprünge betreffen also nicht allein die Motivik, die diversen Genren, die unterschiedlichen Lebenssphären (Technik, Natur, Wissenschaft, Kunst. Vielmehr erstrecken sie sich ebenfalls auf die vom Künstler verwendeten Ausdrucksmedien, Materialien und Bildgattungen selbst: Zeichnung wird Malerei, wird wieder Zeichnung, gerät zum Farbrelief und ragt aus dem Bildträger heraus, als wolle der Pfad – dort hinein ins Bildinnere, ins Sinninnere – haptisch erfahren, erfühlt werden, einer überdimensionalen, mysteriösen Braille-Schrift gleich, die den Betrachter ja vor dem Übersehen der Dinge (auch der kleinen und kleinsten) zu bewahren bestrebt ist. Denn auch ganz ohne Andrej Nikolajevitsch Kolmogorov (1903-1987) verletzen zu wollen, das Verhalten wahrscheinlicher Rechnungen verhält sich bekanntermaßen unwahrscheinlich unberechenbar, völlig axiomslos ausgedrückt: „Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.“
Clemens Ottnad M.A., Kunsthistoriker
Geschäftsführer Künstlerbund Baden-Württemberg
Einführungsrede: „Verhaltenswahrscheinlichkeitsrechnung“, Wendelinskapelle Weil der Stadt, 2016